Wir haben keine andere Zeit als diese

Wir haben keine andere Zeit als diese.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich möchte im Theater etwas fühlen. Ich möchte berührt werden, von was auch immer. Einer Idee, einer Wahrhaftigkeit, einer Schauspielerin, einer Form, einem Satz. Diese Inszenierung schafft das. Alles.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde. Ich habe den Roman nie selbst gelesen, kenne aber Fragmente und aus dem Deutsch LK genug Inhalt, um ein Gefühl für ihn entwickelt zu haben. Ein anstrengender Roman, Kästners erster „für Erwachsene“, Mosaikstücke, die uns und die Hauptfigur Fabian durch das Berlin jagen, das uns in den letzten Jahren in Serien wie Babylon Berlin oder Neu-Inszenierungen von Cabaret oder anderen Romanen der Neuen Sachlichkeit zu Genüge vorgeführt wurde. Wir leben 100 Jahre später. Und ein Geschichte-wiederholt-sich-Gefühl ist nicht mehr abzuschütteln. Um diesen Umstand weiß die Weimarer Inszenierung von Fabian, die den Stücktitel mit „Schauspiel von Erich Kästner“ untertitelt. Und das zurecht.

Diese Inszenierung ist kein „nach“. Abgesehen von einem liebevollen dadaistischen Gedicht („An Anna Blume“) ist der Text komplett Kästner. Und er darf für sich sprechen.

Fabian ist hier kein zurückhaltender, besserwisserisch wirkender Beobachter. Er diskutiert lebhaft mit seinem Freund Labude, der das idealistische Herz in meiner Brust höherschlagen lässt. Und ich kann beide nachvollziehen. Genau, wie ich Cornelia nachvollziehen kann, die sich eben dreckig machen muss in einer patriarchalen Welt und die ihr Vertrauen in Fabian setzt und hofft, dass er das genauso erkennt wie sie (und jede andere Frau in dieser Welt). Ich kann Irene Moll nachvollziehen, die Berlin gestalten und auskosten will, bis sie das sinkende Schiff verlässt und auf wahre Verbindung hofft, die sie in Fabian zu erkennen glaubt. Die aber auch ohne Mann ihren Weg geht.

Ich fühle erstaunlich viel für einen Abend, der einen Roman behandelt, der in der Epoche der Neuen SACHLICHKEIT entstanden ist. Das liegt neben der großartigen, fein gearbeiteten und dann frei gestalteten Schauspielkunst der tollen Kolleg*innen an der starken Form, die diesen Abend bestimmt. Vorbühne, also ein Raum mit nur ca. vier Metern Tiefe, kahle Wände, die einen Guckkasten bilden, auf dessen Rückwand manchmal eine Spielfläche für eine höhere Instanz eröffnet wird und ein Graben, in den gefallen, gehüpft wird, in dem gespielt, über den gesprungen wird und der sich kurzzeitig schließt, als die Liebe von Cornelia und Fabian anfängt zu gedeihen. Viel Raum für meine Fantasie. Und viel Raum für die Worte von Kästner.

„Der Unterleib meiner Frau wuchs mir sozusagen über den Kopf“ ein Satz, der wie für einen Theaterabend geschaffen wirkt. Labudes flammende Rede über ein gesellschaftspolitisches System, das die Klassen vereint und für das die jungen Menschen nun endlich einzustehen haben, wirkt wie ein Text, der genauso auf einer antifaschistischen Demo montagsabends auf dem Theaterplatz in Weimar zu hören sein könnte. Fabian, der daran verzweifelt, dass Cornelia ihn vermeintlich genau in dem Moment verlässt, in dem er etwas hatte, für das er bereit war zu kämpfen. Und Fabians Mutter, die ihn fragt, wie es seinem Herzen geht. 

All diese Worte haben Platz in dieser Inszenierung, dürfen, müssen gehört werden. Und dadurch werden sie gefühlt. Von mir, vom Publikum. Die Inszenierung zwingt mir nichts auf, keine Nacktheitsorgien des ach so verrückten Berlins, keine moralistischen Abgründe, die uns Fabian vorgaukelt, keine Theater Selbstironie, bei der so oft eine Theater Arroganz herauskommt. Die Spieler*innen geben ihr Alles und das lässt mich mit ihnen allen fühlen.

Und wenn das Ensemble am Ende unter dem Schriftzug „Lernt Schwimmen“ einen dräuenden „Wir haben keine andere Zeit als diese“ Choral singt, dann fühle ich mich diesem anstrengenden, seltsamen Roman und vor allem diesem anstrengenden, seltsamen Kästner näher als je zuvor.

Raika Nicolai

 

(Fabian oder Der Gang vor die Hunde. Schauspiel von Erich Kästner ist zu sehen im Deutschen Nationathater in Weimar. Termine hier. Eine weitere Besprechung des MDR findet ihr hier.)